susanne clay
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Vier


I feel pretty, oh so pretty, I feel pretty and witty and briiiiiight. And I pittyyyyyy any girl who isn't me tonight. Lla la la la la la la la la ...
Ich kann tanzen.
Es ist leicht.
Das einzige Geheimnis ist, nicht darüber nachzudenken, was die Füße machen sollen, wenn die Musik einsetzt.
 Wir hatten keine Kulisse, keinen Ballraum. Kein nächtliches Flachdach auf einem herunter gekommenen Mietshaus in der West Side.
Die Musik begann. Und Nardo, Fabio, begann zu singen, nahm meine Hand, begann zu tanzen. Und es war New York, es waren die 50er Jahre, wir trugen genau die Sachen, die uns gefielen und wir sangen und tanzten und keine verdammte Sekunde dachte ich, jemand sieht mir zu.
Und keine verdammte Sekunde dachte ich, irgendwas, irgendwer sollte anders sein..

Ich liebe West Side Story. Ich liebe es, ich liebe es, ich liebe es.
Ich liebe es, in einem weiten Rock über die Bühne zu tanzen. Ich liebe den so eng angeschmiegten Stoff meines Oberteils auf meiner Haut. Ich liebe es, wenn mir langsam warm wird, wenn ich merke, wie mein Shirt über die Schulter rutscht. Und ich werfe meine Haare zurück und lache. Ich liebe es, wenn sich die Hände der Jungs um meine Taille legen bei den Drehungen und Sprüngen und es fühlt sich an wie eine Berührung auf warmer, bloßer Haut. Ich liebe es, wie mein Rock um mich herum wirbelt und kein Stück fühlt es sich an, als sei ich fett.
Wie kann ich fett sein, wenn Fabio meine Taille umfasst, seine Hände um meinen Körper legt, nur so wenige Zentimeter, bis seine Fingerspitzen sich wieder berühren und er fragt ganz leise bei einer Drehung, „Ist es zu fest, tu ich dir weh?“
Ich liebe es.
Und ich kann tanzen.

Frau Korte ging nach der Probe die nächsten Termine durch. Die Besetzungen.
Maria steht, natürlich wird Nelli die Rolle bekommen. Sie sah atemberaubend aus, zart, verletzlich in ihrem weißen Kleid, einen roten Reifen im langen dunkeln Haar, einen sehnsüchtigen Ausdruck im Schneewittchengesicht. „Sags niemandem, aber ich habe jeden Tag geübt“, erzählte sie mir in einer kurzen Pause. Sah meinen Blick, kniff mir leicht in den Arm. „Tanzen natürlich, nicht singen.“ „Was soll´s,“ sagte ich und lachte. „Du weißt doch, bei Nathalie Wood reichte tanzen auch.“
Nardo steht, niemand hatte Zweifel, die Rolle ist für Fabio gemacht. Leon ist Tony, ich war gespannt auf ihn, aber er hat eine gute Stimme und als er in der Ballraumszene Nelli, seine Maria, entdeckte und zu singen begann, war ich nicht die Einzige, die fast heulte. Er ist ein ruhiger, ernster Tony. Mit einem Gesicht, das traurig, ein bisschen verloren, sehr angespannt wirkt. Als wüsste er schon um das Ende, als ahnte er schon, wie wenig Zeit ihm gegeben ist für seine Liebe. Frau Korte hörte ihn an, sagte nach wenigen Minuten, „Leon, du übernimmst die Rolle?“
Die meisten Sharks und Jets stehen fest. Chicco und Riff sind noch doppelt besetzt, da will Frau Korte die nächste Probe abwarten.
Anita ist noch nicht beschlossen.
Doro hat zwei Songs aus der Rolle gesungen. Und getanzt.
Frau Korte hat sie auch die Dachszene mit dem Americasong mit Nardo spielen lassen.
Doro tanzt wunderbar.
Frau Korte sah es sich an, ließ uns ein paar Mal variieren, dann fragte sie wie nebenbei, übernimmst du Anita, Carmen? Fabio, Nardo, Nardo, Nardo, stand dicht daneben, noch leicht außer Atem, verschwitzt, ungewohnt, fremd, in seinem dunkelvioletten Seidenhemd und den geölten Haaren, nickte, wieder und wieder und sah mich an und lachte wie ein kleiner, glücklicher Junge.
Ich habe nicht gesagt, dass ich auf keinen Fall Anita sein werde. Obwohl Doro neben mir stand, in einem lila Kleid, genauso wie das, das Anita in dem Musical zum Fest trägt.
 „Sie hat nicht die Stimme, nicht die Ausstrahlung für die Rolle “ sagte Frau Korte, als wir einen Moment allein waren. Sie blätterte durch ihr Konzept, kritzelte was in ihr Skript, sagte, „Noch stehst du hier in meiner Besetzung als Anita.“ Sie sah hoch, warf einen schnellen Blick über die Bühne, sah mich ganz kurz an. „Bis Ende nächster Woche musst du dich entschieden haben, sonst muss ich Dorothea die Rolle zuteilen.“

Wir sind ins Sax gegangen nach der Probe. Alle sind mitgekommen, wir haben uns nicht umgezogen, sind genauso gegangen, wie wir waren. Laut durcheinanderredend, singend, verschwitzt, wie aufgedreht. Ob wir vom Film sind wollte der Kellner wissen und Nelli lachte und sagte, „Klar Mann, das sieht man doch.“
Wir haben uns Limo bestellt und Cola, aber als wir im hinteren Raum waren, zogen Nelli und Milla Sekt und Cassissirup aus ihren Rucksäcken. „Sundowner“ erklärte Nelli, „mein Spezialcocktail.“ Und wir haben unsere Coke runtergespült und uns großzügig Sekt mit Johannisbeersirup eingeschüttet. Alle haben angestoßen, gelacht, durch ihre Texte geblättert, sich gegenseitig einzelne Passagen vorgesungen, auf engstem Raum ein paar Tanzschritte ausprobiert. Ich saß auf einem alten, abgeschabten Ledersofa, streckte meine Beine aus, bewunderte kurz meine Füße in den roten, ungewohnten Pumps. Kuschelte mich tief in die Lehne, nippte an dem Cocktail und für einen Moment wünschte ich mir, dass Mikko sich neben mir zusammen rollen würde, mit mir zusammen hier sein könnte.
Nelli sang mindestens fünfmal ihr Duett mit Toni, bis Leon lachte und sagte, jetzt kann ich nicht mehr. Als Nelli und Doro und einige andere raus gingen um eine Zigarette zu rauchen, schlenderte Leon zu mir, die Sektflasche in der Hand, fragte gar nicht erst, füllte kurzerhand mein Glas erneut. Fabio kam dazu, fragte, ob ich Cassis dazu möchte, aber ehe ich nicken konnte, sprang Leon auf und holte den klebrigen Saft von der Theke, goss einen Schuss dazu, wurde ganz verlegen, als es schäumte und mir der Sekt über die Hände lief. Ich lachte, leckte meine Finger ab, machte ihm Platz auf dem Sofa und er schmiss sich neben mich auf das Sofa. Fabio quetschte sich auf die andere Seite und dann redeten wir über nichts anderes als über das Stück. Fabio sagte, „Du bist Anita, das weiß doch jeder.“
Leon sah ihn an, schnaufte leise, sagte, „Carmen kann jede Rolle nehmen.“
 „Du singst toll“, flüsterte er in mein Ohr und irgendwann legte er den Arm um die Rückenlehne, rückte ein Stück näher und sagte leise, die Augen auf seine Füße gerichtet, „Ich wusste wirklich nicht, wie gut du singen kannst. Du singst unglaublich toll.“
„Sie singt nicht nur toll, sie sieht auch toll aus“ sagte Fabio ganz ruhig. Er hob sein Glas, lächelte mich an, ein leicht ironisches Lächeln die Mundwinkel nur wie angedeutet verzogen, lange hielt sein Blick mich fest, bis ich nicht mehr wusste, wo ich hinsehen sollte.

Als Nelli und die Clique wieder rein kamen, quetschte Nelli sich sofort zwischen uns auf das Sofa, sagte zu Fabio: „Rück mal, ich muss dringend die Füße ausstrecken. Kein Platz für Jungs“, sagte sie und schubste auch Leon von der Couch.
Bevor Fabio aufstand beugte er sich kurz ganz dicht zu mir. „Du must Anita sein, Carmen, du bist richtig gut!“ Warm spürte ich seine Worte auf meiner Haut, so nah war sein Gesicht an meinem. Und dann strich er ganz leicht mit seinem Kinn über meine Wange. Für einen Moment dachte ich, er hätte mich geküsst. Mit seinen Lippen einen winzigen Moment meine Haut gestreift.
Nelli streckte sich auf dem Sofa aus, rempelte mich kurz mit dem Ellenbogen und redete und redete. Ihre Freundinnen standen um uns herum, eine Zeitlang stand Leon noch neben mir, versuchte, etwas über Nellis Redestrom hinweg zu sagen, irgendwann stand er auf, war verschwunden, nicht mehr zu entdecken in der lauten, lachenden Gruppe vor der Theke.
Fabio blieb dicht vor uns, das Glas in der Hand, neben ihm redete Doro die ganze Zeit auf ihn ein, aber er antwortete kaum, sah immer wieder zu mir herüber.
„Es ist schon neun, wir gehen noch zu Doro“ erklärte Nelli und sah mich an, als erwarte sie eine Antwort auf irgend etwas, dass ich nicht mitbekommen hatte. Dann zuckte sie mit den Schultern und sagte, „okay, vielleicht sehen wir uns am Wochenende?“

Als ich aufstand, hielt Fabio mich kurz zurück. „Gehst du wirklich schon nach Hause?“
Ich nickte.
 „Schade“, sagte er. Dann lächelte er.
„Vielleicht hast du ja nach der nächsten Probe mehr Zeit. Ich bring dich zur Tür.“
Ich drehte mich um, rief den anderen einen Abschiedsgruß zu. Nelli hob die Hand, die anderen waren in ihr Gespräch vertieft. Als ging, nahm Fabio meine Hand, hielt sie wie selbstverständlich fest. Fast rannten wir Leon um, der im vorderen Teil des Cafés allein vor der Theke stand. Er rief mir irgend etwas hinterher, ich verstand nicht, was er sagte, ich winkte und lachte. Drückte kurz Fabios Finger als wir am Ausgang waren, drehte mich um und lief los.
Alles in mir sang, am liebsten hätte ich den ganzen Weg nach Hause laut gesungen und jeden Schritt noch tausendmal getanzt.
Als ich aufschloss, stand der alte Petersen im Flur. „Deern“, sagte er, „Deern, das Leuchten in deinen Augen verrät einem alten Mann, da gab es wohl ein Rendezvous?“ Und er schmunzelte und schlurfte in seinen ausgetretenen Hausschuhen durch den Flur, hielt seine Haustür weit auf, sagte: „Jetzt muss ich wohl Sie sagen zu der hübschen jungen Dame? Und wie wärs mit einem Abendtee?“ Bei ihm klingt es wie dschunge Doame und Tee klingt, als stünde ein J als letzter Buchstabe.
Ich mag den alten Peterson. Ich freute mich, ihn zu sehen, ich mag ihn wirklich gern, aber Tee trinken bei Peterson ist nicht mal eben Wasser heiß machen, Beutel in einen Becher und Milch und Zucker dazu so wie bei uns. Er kocht das Wasser in einem richtigen Kessel. Er wärmt die Kanne vor, eine Metallkanne, schüttet Teeblätter hinein und dann bleibt der Tee darin. Wird stärker und stärker von Tasse zu Tasse. Das gute Porzellan holt er heraus dann. Hauchdünne, winzige weiße Tassen mit einer Rose darauf, es gibt kieselsteingroße Kandisbrocken, Kluntje nennt er sie, und flüssige Sahne in einem zum Porzellan passenden Kännchen. Er trägt alles auf einem Tablett ins Wohnzimmer. Beobachtet genau, wie ich den Kluntje in meine Tasse tue. Dann schüttet er den Tee ein. Sahne erst, wenn der Kandis unten in der Tasse knistert, „und niemals umrühren“, sagt er immer, „durch die Sahne trinken, Deern.“ Manchmal wirft er einen Blick auf das Muster, das der Rahm malt und sagt, „Schöne Wolken, Deern, sieh mal, so schöne Wolken.“ Und erst wenn ich einen Keks genommen habe, setzt er sich selbst hin.
Meistens ist Mikko dabei , dann klopft Petersen kurz auf den Platz neben sich auf dem abgeschabten, durchgesessenen Sofa, sagt, „Jung“, dann bekommt Mikko, aufrecht und hoheitsvoll auf der Couch hockend, seinen Keks, nimmt behutsam das Gebäck aus den verknitterten Fingern des alten Mannes, statt wie sonst mit einem Happs alles herunter schlingend.
„Heute nicht, Herr Petersen“ sagte ich und ich merkte, wie ich dabei über das ganze Gesicht strahlte.
„Hast ja recht Deern, so wie du aussiehst heute, solltest du deine Zeit nicht mit einem alten Mann verbringen.“ Ich gab ihm einen Kuss auf die kratzige, faltige Wange, er lachte überrascht und dann sauste ich durch den Flur in unsere Wohnung.
Meine Eltern saßen vor dem Fernseher. Eine Flasche Wein stand geöffnet vor ihnen, meine Mutter hatte die nackten Füße auf den kleinen Tisch gelegt. Als ich herein kam, sahen sie auf. Meine Mutter sprang auf, kam auf mich zu, küsste mich. Dann hielt sie mich einen Moment lag auf Armeslänge von sich weg und sah mich an. „Mein Gott, Kind, du siehst wunderschön aus.“
Sie warf meinem Vater einen ungeduldigen Blick zu, schnappte sich die Fernbedienung, drehte den Ton fast aus. „Nun sieh sie dir an, Olaf, unsere große Tochter. Erwachsen. Sieht sie nicht wunderschön aus, Olaf?“
Mein Vater löste widerwillig den Blick von der Glotze, knurrte, „Natürlich tut sie das. Sie ist immer wunderschön.“ Dann erst sah er mich richtig an. Stellte sein Glas weg. Musterte mich von oben bis unten. Und dann lächelte er.
 „Prinzessin“, sagte er, „du siehst wunderschön aus.“ Er stand auf, ich dachte einen Moment, jetzt wollte er mich auch küssen, aber er ging zum Schrank, holte ein drittes Glas heraus und sagte, „Und jetzt bekommt meine große, meine wunderschöne Tochter ein Glas Rotwein und dann erzählst du alles von der Probe. Aber wirklich alles.“

Ich habe alles erzählt, von der schönen Musik, von den bewundernden Kommentaren der anderen, meine Mutter strahlte, als ich Nellis Stimme nachahmte, „Verdammt, wo hast du bloß diese völlig abgefahrenen Klamotten her?“. Sie lachten, als ich nachmachte, wie Nelli jedes einzelne Teil befummelte und begutachtete, alles, sogar den BH.
Ich erzählte, wie Nelli mich fragte, wann ich soviel abgenommen hätte und was um alles in der Welt ich mit meinen Augen gemacht hätte, wie sie immer wieder den Kopf schüttelte und sagte „Wahnsinn, wie manche Klamotten strecken.“
Mein Vater verdrehte die Augen, murmelte „Weiber!“. Aber meine Mutter strahlte, drückte mich an sich, sagte, glaub mir doch endlich, nichts das du strecken musst, Süße, und dann sah sie mich wieder von oben bis unten an und sagte „Du siehst einfach umwerfend aus.“
Sie wurde ganz ernst dabei und dann kuschelte sie sich an meinen Vater und bevor es wirklich peinlich wurde gab ich beiden einen Kuss und ging in mein Zimmer.

Der Bildband liegt noch aufgeschlagen vor dem Spiegel. Ich blättere zurück, bis ich zu dem Foto komme, in dem Maria in ihrem weißen Kleid auf dem Dach steht. Wunderschöne Nathalie. Wunderschöne Nelli in ihrem weißen Kleid. Sie sah anders aus als sonst. Wir sahen alle anders aus. Ungewohnt. Fremd. Schön.
Ich suche das Foto von Anita und Nardo auf dem Dach. Anita. Sie treibt niemandem Tränen der Rührung in die Augen. Schöne, kluge, selbstbewusste Anita.

Seufzend schlage ich das Buch zu. Stelle mich vor den Spiegel. Meine Wimperntusche ist an einer winzigen Ecke des Lides verschmiert. Sorgfältig tupfe ich die Schminke zurecht. Streiche über mein T-Shirt. Ziehe es langsam weiter herunter, bis die Schultern. wie rot eingerahmt schimmernd, weich und rund frei liegen. Eine Fremde blickt mir aus dem Spiegelbild entgegen. Eine schöne Fremde. Eine schöne, schlanke Fremde.
Ich dreh mich langsam um mich selbst, summe leise i feel pretty, oh so pretty. Seufze laut und glücklich. Dann ziehe ich das Shirt vorsichtig über den Kopf. Streiche über den Stoff, hänge es über einen Bügel. Den Rock daneben, so kann ich es sehen, wenn ich im Bett liege. Ich zieh mir ein altes Baumwollhemd von meinem Vater über. Gehe an meinen Schreibtisch.
Mein Rechner ist noch an. Als ich die Maus anklicke, fährt er leise brummend hoch. Ich starte mein Emailprogramm. Zwei Nachrichten sind eingegangen. Vielleicht von Rokko?
Eine Mail von Nelli, sie muss sie kurz vor der Probe geschickt haben. Eine Rundmail an ihren gesamten Verteiler. Ins Sax nach der Probe; Leute? Danach irgendwo Wo-Ende einläuten? Keine Mail von Rokko.
Eine Mail mit unbekanntem Absender. Jackknife. Klingt wie einer dieser obercoolen Sprücheklopfer aus dem Chat. Wie kommt er an meine Mailadresse? Abgeschickt gegen zehn, vor knapp zwei Stunden erst.
Außer den Leuten, die ich privat gut kenne, kennt nur Rokko meinen Account.
Mikko stupst mich an, einen Pantoffel im Maul. Sanft drücke ich ihn zur Seite, „Nicht jetzt, Mikko, es ist spät.“ Ich öffne die Mail. Sie ist nicht lang. Nur ein Satz:

Jackknife@youngmail.de an Rocky@youngmail.de
Du hast nicht verdient zu leben, du verfettete Schlampe!!